Prof. Dr. Dr. PD Michael N. Ebertz in den Ruhestand verabschiedet


01.09.2022 | Personalia

Fremdheit im System.
Kritik und Rückblick - mit Ausblick auf die KH


Rede zum Akademischen Abschied an der KH Freiburg am 18.07.2022 - gekürzte Fassung (vollständige Rede auf www.michaelebertz.de)

‚Ehrlich gesagt‘ wollte ich 1991 an der KH – KFH hieß sie damals – ein Fremder bleiben, einer, der heute kommt und morgen geht. Faktisch bin ich aber kein Gast oder Wanderer an der KH geworden, sondern einer, der heute kommt und morgen bleibt. Und nun bin ich einer, der gestern gekommen, dann geblieben und nun am Gehen ist. Meine Relationen zur KH – der Begriff des Fremden ist kein Eigenschafts-, sondern ein Relationsbegriff – verschieben sich also und werden sich weiter verschieben. Werde ich mir damit selbst ‚fremd‘ werden? 
Nicht allein deshalb habe ich das Thema ‚Fremdheit im System‘ gewählt; sondern weil ich so etwas wie ein Lob der Fremdheit ausbringen möchte. Statt Sehnsucht nach Gemeinschaft: Wille zur Fremdheit, Gestaltung von Fremdheit!
Fremdheit im System heißt, sich einer anderen – vielleicht befremdlichen – Logik zu unterwerfen, an deren Genese man selbst nicht beteiligt war. Sie liegt auch darin begründet, dass die KH als Organisation ein System ist, in dem – anders als in gemeinschaftlichen Gruppen – das Miteinander zumeist ein Nebeneinander ist, weil einiges – sehr Unterschiedliches – gleichzeitig zu leisten und zu entscheiden ist.
In Organisationen sind die Mitglieder durch gewisse Interdependenzen sachlich aneinander ‚gebunden‘, ohne miteinander durch eine ähnliche Lebensführung oder Gesinnung ‚innerlich verbunden‘ zu sein. Identifikation mit der Organisation und deren Kooperation untereinander muss auf andere Weise gefördert werden als durch Sympathie und monetäre Anreize. Das scheint der KH nicht nur in meinem Fall gut gelungen zu sein, denn viele kommen und bleiben. Mir persönlich hat immer die Freiheit in Lehre und Forschung an der KH gutgetan, unterstützt von einer guten Hochschulleitung und Verwaltung im Hintergrund, in der Forschung nicht zuletzt von hervorragenden Akademischen Mitarbeiterinnen. Bedenklich empfand ich, wenn der Pegel des Risikos stieg, dass Freiheit und Selbstverpflichtung eingeschränkt oder die Wertschätzung der Geistesarbeit erkämpft werden musste. Wollte ich das? 
Ich wollte eine konstruktive Konfrontation mit Fremdheit und dass die Inter- oder Transdisziplinarität besser genutzt wird, als das in der KH bislang geschieht.

Die Präsenz der Studierenden markiert vielleicht am deutlichsten, was ich unter „Fremdheit im System“ verstehe. Sie verkörpern die institutionalisierte Fremdheit im System der Hochschule. Freilich verbindet uns alle – Lehrende, Studierende, Verwaltende, Führende und Leitende – eine Fülle von Gemeinsamkeiten, und stets ist eine Fülle von Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten gegeben. Aber eine Hochschule wählt einige dieser Verschiedenheiten aus und macht sie zur strukturellen Basis ihrer Selbstidentifikation. Die sonstigen Gemeinsamkeiten werden auf sozial verbindliche Weise unerheblich. Markiert und dramatisiert werden dagegen funktionale Besonderheiten. Eine Hochschule steht ja für einen bestimmten Typ von Organisationen. Ihr Zweck besteht nicht im mehr oder weniger netten Zusammensein der Mitglieder, auch nicht ausschließlich darin, Leistungen und Außenwirkungen gegenüber Dritten zu erzeugen, die nicht Organisationsmitglieder sind. Sondern: Eine Hochschule hat die primäre Aufgabe, „auf bestimmte Weise auf eine Personengruppe einzuwirken, die zu diesem Zweck – zumindest vorübergehend – in die Organisation aufgenommen” (Renate Mayntz) wird. 

In einer Hochschule sind die Studierenden die ‚Vorübergehenden‘, während die, die zurückbleiben, ihnen manchmal stolz, manchmal auch kopfschüttelnd nachblicken und dabei schon die nächste Generation von Studierenden anrücken sehen. Ich frage mich manchmal, wie wir mit dieser dauernden Konfrontation mit Unvertrautem umgehen, wie wir sie – auch zum Zweck der Organisationsentwicklung – besser nutzen könnten, um voneinander zu lernen. Liegt nicht in der institutionalisierten Fremdheit einer Hochschule eine Ressource, die anderen Organisationen fehlt? Eine Chance, das ‚Denken-wie-üblich‘ in Frage zu stellen, Gemütlichkeiten zu stören? Müssten wir nicht ein Lob der Fremdheit aussprechen und sie zum Markenkern einer Hochschule machen? Müssten wir nicht, so spitze ich weiter zu, organisierte Heimat- und Gemütlichkeitskiller sein, um auch andere Organisationen – nicht zuletzt unsere „Mutter Kirche“ – von ihrer Blindheit, Trägheit und Selbstgewissheit zu befreien? Auffällig ist ja die Ambivalenz, die Fremdheit auslöst. Sie erscheint einerseits als Verlockung, als Aufbruch aus mehr oder weniger belastenden Gewohnheiten und Routinen.

Andererseits kann das Fremde auch irritieren, als Bedrohung wirken. Eine Hochschule vermag Leistungsformen freizusetzen, die zu ihrer Realisierung gerade nicht persönliche Bindungen, Freundschaft oder Verwandtschaft voraussetzen. Eine Hochschule steht für die institutionalisierte Fremdheit, ist kein Freundschaftsclub, auch keine Studentenverbindung. Ich selbst verstand mich weder als Freund noch als Feind der Studierenden, sondern als Zwischenfigur, sie im Rahmen der Organisation in dieser wichtigen transformativen Phase ihres Lebens punktuell so zu begleiten, dass sie selbst – mit mehr oder weniger sanften ‚Korrekturen‘ – die Richtung bestimmen können. Und die KH bot mir dafür einen hervorragenden Rahmen – bei allen schrägen Nummern und Typen. Und meine Familie half manchmal, bestimmte Dinge zu verkraften und zu Hause in erlösendes Lachen zu überführen. Klar, manchmal musste man auch wie eine Hebamme sein, Retter in der Not, hin und wieder Inspirator, freilich auch Sparringspartner. Ich wusste ja, dass sie, wie sie gestern gekommen sind, morgen wieder gehen, manchmal freilich auch in guter Erinnerung bleiben.

Wer wünscht sich das nicht, wenigstens in guter Erinnerung zu bleiben, auch wenn er auf der anderen Seite dieser Hochschule stand und nun bald auf ihrer Homepage als Ehemaliger geführt wird? Vielleicht lässt sich da auf der Homepage noch ein Kasten mit guten Wünschen für die KH einrichten. Wenn ich drei frei hätte, würde ich da mein Lob der Fremdheit hineinschreiben: Aus der Interdisziplinarität schöpfen, die Feedback-Kultur ausbauen, der Sinnfrage Raum geben.

Michael N. Ebertz

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